4
Nov
2016
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Der Stapel der Eindrücke

Da sitz ich nun – mitten im vietnamesischen Bergland und meine bis hierhin unerschütterliche Gelassenheit ist gerade kräftig am Wanken. Es ist nicht so, dass ich mich als abgeklärt bezeichnen würde. Wahrscheinlich liegt es an einigen, von Steffen viel zitierten, Vergleichsbildern, die mich meine Eindrücke bisher unaufgeregt in, schön verzierte, kleine Erinnerungskästchen einsortieren lassen.

Die Begegnungen der letzten beiden Tagen jedoch lassen sich nicht vergleichen. Sie passen in keine der schon vorhandenen Boxen rein. Irgendwie haben sie ein anderes Format.  Und so liegen sie ganz oben auf dem Stapel der Eindrücke. Sperrig und schwer verdaulich. Wahrscheinlich brennen sie sich genau deswegen so sehr in meinen Kopf ein, machen meine Knie weich und hinterlassen ein mulmiges Gefühl in meiner Körpermitte. 

Aber erst noch mal auf Anfang:
Montagmittag, mein unerschütterlich-gelassenes Ich streift durch ein kleines Bergdörfchen. Zwei Stunden hat jeder von uns Zeit auf eigene Faust das Dorf zu erkunden, neue Bekanntschaften zu machen und sein Fotosujet zu verfolgen.
Sehr darauf bedacht nicht als Rudel über die Bewohner herzufallen, verteilen wir sechs uns alle sehr schnell und jeder steuert in unterschiedliche Richtungen.

Etwas ziellos laufe ich in Richtung eines Feldes, wo gerade eine wunderschön gekleidete Hmong Frau schwere Feldarbeit leistet. Soll ich sie unterbrechen? Ob sie wohl Lust hat auf ein Päuschen und einen „Plausch“ unter Frauen? Aber zu meinem Thema würde es nicht passen und sind wir mal ehrlich, möchte ich eigentlich Portrait stehen, während schweißtreibender Gartenarbeit?

Noch nicht mal zu Ende gedacht, werde ich von „Hello“ Rufen aus den Gedanken gerissen. Ein Mann mit seinem Hund winkt mich den Berg hinauf zu seiner Hütte. Eine kurze Skepsis schießt durch meinen Kopf: wird mir, wie Frank, jetzt auch eine unkontrollierbare Reisschnaps Orgie bevorstehen?

Pffh, ich lache den Zweifel einfach weg. Freundliches „Xin Ciao“, breites Lächeln, Hund streicheln und ein erstes Instax-Bild zum warm werden (hätte ich nur früher schon gewusst, welche genial einfache Art der Kontaktaufnahme diese kleinen Instax Kameras bescheren…). Ich mache zwei, drei Fotos und werde gleich darauf in die Holzhütte eingeladen.
Dort wartet keine mageneinheizende Schnapsflasche auf mich, sondern eine herzerwärmende Ehefrau, die sich sofort daran macht uns frischen Minztee zu kochen. Das einzige, was ich zu dem spontanen Kaffeebesuch beisteuern kann, sind eine Handvoll Süßigkeiten.

Während ich am Feuer sitze, meinen Blick durch die Hütte schweifen lasse, fällt mir plötzlich ein Tropf auf, der von einem mit Spinnweben besetzten Holzbalken herunter hängt. Für wen dieser gedacht sei, frage ich die Frau mit Händen und Blicken. Das sei ihrer, gibt sie mir zu verstehen.
Ein paar Augenblicke später betritt der Sohn der Familie die Hütte. Er humpelt schwer und sein rechter Knöchel ist stark geschwollen. Ich versuche ihm mit meinem fragenden Blick und einem aufmunternden Lächeln mein Mitgefühl auszudrücken. Er antwortet mit einem tapferen Nicken.
Seine Augen können aber nicht über seine offensichtlichen Schmerzen hinwegtäuschen. Bei genauerem Hinsehen offenbart sich eine offene Wunde am Fuß. Es scheint also mehr als nur ein verstauchter Knöchel zu sein. Etwas verlegen schaue ich mich noch etwas in der Hütte um und bleibe vor einem Holzregal stehen, dass die wahrscheinlich kostbarsten Besitztümer der Familie verwahrt. Dazu zählen eine kleine Musikanlage, ein altes Ericsson Handy und ein paar Kopfhörer.
Vor der Musikanlage fällt mir ein kleines, fast leeres Plastikfläschen auf. Es sieht aus wie Augentropfen und ich frage, ob es eben solche sind. Er schüttelt den Kopf und deutet auf seinen Fuß. Leider kann ich nicht lesen was auf der Packung steht. Wie ein Desinfektionsmittel sieht es allerdings nicht aus. Und ob die letzten Tropfen tatsächlich reichen um seine Verletzung zu heilen, fällt mir schwer zu glauben.

Nächster Tag.
Wieder ziehen wir zu Fuß durch ein kleines Bergdörfchen. Meine erste Begegnung ist diesmal ein kleiner Junge, der alleine an einer Weggabelung steht. Wir spielen gemeinsam ein bisschen mit einem kleinen zusammensteckbaren Flugzeug, so richtig reden möchte er aber nicht. Nicht einmal seinen Namen verrät er mir. Bevor ich weiterziehe, stecke ich ihm noch ein paar Bonbons und sein Instax Foto zu.
Wenige Meter weiter, treffe ich auf Steffen, Sabine und Jens, die gerade von ein paar Frauen neu eingekleidet werden. Vor allem die beiden Muong Frauen amüsieren sich sichtbar köstlich über uns Langnasen in den traditionellen Gewändern.

Ein paar Wegbiegungen weiter sehen Jens und ich einen kleinen Jungen auf einem Reisfeld vor malerischer Bergkulisse stehen. An so einem Bild kann man als Fotograf einfach nicht vorbei gehen. Noch viel weniger, wenn man noch ein paar Spielzeuge und geschenkte Kindersachen im Rucksack hat und  der Kleine nur mit einem T-Shirt, ohne Hose und Schuhe vor eben jener Bergkulisse steht.

Während der Junge sich scheinbar vor uns erschrickt und uns eher zum Heulen findet, freut sich die Mutter über unsere Geschenke und über die Abwechslung von der Feldarbeit. Kurze Zeit später gesellt sich noch eine zweite Frau dazu, die ihren schlafenden Sohn auf dem Rücken trägt. Wir machen Bilder, versuchen den Schrecken der Kinder zu nehmen und sind eigentlich alle recht vergnügt.

Von all dem Trubel um ihn herum, wacht der Kleine auf dem Rücken auf und auch ihm geben wir ein paar Spielzeuge und machen gemeinsam ein paar Bilder.
Erst später fällt auf, dass sein rechter Fuß dunkelblau ist. Zuerst halte ich es für eine Neckerei seiner Mutter, die vielleicht seinen Fuß in das Färbemittel, mit dem die Frauen des Dorfes die Stoffe blau färben, eingetaucht hat.
Eine ähnliche Neckerei durfte ich mal bei einer Indianerin beobachten, die ihr schlafendes Baby mit einer schwarzen Pflanzenfarbe, mit der sich sonst die Erwachsenen „tätowieren“, das ganze Gesicht verziert hat.
Erst als ich eine kleine vereiterte Wunde an der Außenseite des Fußes bemerke, wird mir schmerzhaft klar, dass die Ursache für die Verfärbung kein liebevoller Scherz ist, sondern eine sehr ernste Verletzung.
Was mich umso mehr um Fassung ringen lässt, ist eine Unterhaltung mit Ly am Morgen, bei der ich sie über das vietnamesische Gesundheitssystem befragt habe. Grundsätzlich hat hier jeder, unabhängig von den finanziellen Mitteln, Zugang zu medizinischer Versorgung.

Da liegen sie nun diese Bilder. Unsortiert und sperrig. Oben auf dem Stapel.
Aber ich glaube es ist auch richtig und gut so, dass es für solche Erlebnisse keine Kästchen gibt. Manches darf auch unverdaut bleiben.

Text: Lisa Könnicke (http://lisakoennicke.de)
Fotos: Alle Tourmitglieder

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