Halbzeit
„Halbzeit in Vietnam – gefühlt 1 Monat hier anstatt nur 1 Woche. Neue Freunde gefunden, vieles gelernt, noch mehr gesehen, Ängste überwunden, aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen, gelacht, geweint, geflucht, Dinge in Zweifel gestellt, Karaoke gesungen…. So viel Leben wie nur möglich in einer Woche <3 Beste Zeit ever!“
So lautete gestern Abend mein Status auf Facebook. Der Tag hatte für mich mehr Emotionen als Stunden, aber der Reihe nach.
Nachdem wir am Donnerstag die meiste Zeit im Auto saßen, um nach Moc Chau zu kommen, startete der Freitag mit einem kleinen Highlight: Ausschlafen! Sprich nicht um 5 oder 6 Uhr bereit zur Abfahrt sein, sondern ganz entspannt um 8 Uhr am Frühstückstisch treffen. Ich hatte also endlich mal wieder mehr als 4 Stunden Schlaf und merkte dennoch bereits beim Aufstehen, dass die 7 Stunden Nachtruhe vielleicht doch nicht so gut für mich waren, denn meine Laune ließ zu wünschen übrig. Bereits beim Frühstück hätte ich wegen einer Kleinigkeit an die Decke gehen können und ich merkte schon, dass der Ausdruck „emotional nah am Wasser gebaut“ für Tage wie heute erfunden wurde.
Nach dem Frühstück auf unserer Teeplantage, wo wir in schnuckeligen umgebauten Containern schlafen durften, ging es an die erste Bildbesprechung. Jeder Teilnehmer zeigte die Bilder, die er bereits geschossen hatte, ob zu seiner Klammer gehörend oder nicht. Wer es bisher nicht wusste, jeder sollte sich zum Anfang der Reise für ein Thema entscheiden, dass er oder sie gerne fotografisch festhalten möchte. Für mich war klar, es muss etwas mit Stoffen und/oder DIY zu tun haben, da wird meine Leidenschaft und mein Beruf gleichermaßen angesprochen.
An dieser Stelle muss noch erwähnt werden, dass die ersten 4 Tage abseits von Hanoi wie für mein Thema gemacht waren! Ich wurde bereits von den anderen Tourteilnehmern liebevoll aufgezogen, dass die stickenden Frauen extra aus ihren Hütten raus kommen, wenn sie sehen, dass unser Bus vorfährt.
Nun denn, als Schlusslicht der Runde durfte ich nun meine Fotos präsentieren. Bereits da hätte ich heulen können, hatte ich doch gehörigen Schiss vor Steffens Kritik und der der anderen Teilnehmer. Immerhin bin ich hier mit Abstand am meisten Hobbyfotograf und das Wort Bildbearbeitung scheint bisher eher eine niedrige Rolle bei mir zu spielen.
Am Ende waren die Bilder die ich rausgesucht habe zum großen Teil zufriedenstellend, aber ich habe mit auf dem Weg gegeben bekommen, dass der Fokus noch nicht klar ist. Was will ich eigentlich mit der Strecke genau präsentieren? Stoffe? Handwerk? Gegensatz Stadt-Land? Zum Aufbauen war genug vorhanden, aber es war einfach zu viel in verschiedene Richtungen gedacht.
Klar, kein Problem, habe ich verstanden. Uff, noch mal glimpflich davon gekommen.
Denkste.
5 Minuten später im Container habe ich verstanden, warum Moc Chau bei den vorherigen Touren auch zum Wendepunkt zur Halbzeit bei vielen Teilnehmern wurde – ich saß heulend wie ein Schlosshund auf meinem Bett und konnte nicht mehr. Meine Bildauswahl zeigte genau das, was auch Zuhause in Deutschland mein Problem ist. Was ist eigentlich mein Fokus? Und warum kann ich mich, wenn ich das Glück habe aus dem Vollen zu Schöpfen an Ideen und Kreativität, mich nur so verdammt schwer festlegen? Warum ist mein Kopf immer lauter als mein Herz? Und warum lässt meine Zielstrebigkeit nach und nach meine Leichtigkeit verkümmern? Verdammt, meine Fotos haben mein innerstes gespiegelt, von dem ich noch nicht einmal wusste, dass es so da ist!
Aber es war Zeit mit den anderen in die Stadt zu fahren, der Bus wartete bereits, also komm Ricarda, reiß Dich mal zusammen. Ja nee, ist klar.
Bereits am Auto fing ich wieder an zu weinen, dann wieder im Bus… und noch mal im Bus… und vielleicht noch mal im Bus… dann in der Stadt…. Und so weiter. Ich bin ehrlich, der Tag war an dem Punkt gelaufen für mich. Im Vorfeld erzählte Steffen uns, dass wir in Vietnam nach und nach die Schalen verlieren werden, die wir uns aufgebaut haben, die aber nicht unser wahres Ich zeigen. Na herzlichen Dank, das war eine dicke Schale, die da abgefallen ist. Da lag nun sehr viel ich darunter, offen, roh und verletzlich.
Das Schöne ist allerdings, dass man hier unglaublich liebevoll von der Gruppe aufgefangen wird. Kein sich schämen, dafür viele Umarmungen, nette und aufmunternde Worte. Zu keinem Zeitpunkt gab es das Gefühl „ich will hier nicht sein, ich will nach Hause und brauche meine Leute von Zuhause.“ Die Gruppe wird für die Zeit hier zur Ersatzfamilie, Freunden und Mentoren.
Nachdem ich den Nachmittag eher spazierend als fotografierend durch die Stadt gewandert bin, machte sich die emotionale Erschöpfung nach diesem Tag bemerkbar. Angedacht war, dass wir abends noch alle losziehen und eine Karaoke Bar unsicher machen. Steffen meinte zu mir, dass ich heute Abend mal loslassen und richtig einen draufmachen muss.
Ehrlicherweise habe ich nicht daran geglaubt, dass ich abends in eine Karaoke Bar gehe. Ich habe noch nie Karaoke gesungen, schon gar nicht vor anderen, denn auch so weiß ich, dass diese Stimme keinen Ton treffen kann. Ja, es könnte witzig werden, aber es würde sich nicht gut anhören. Hallo Herz wo bist Du, ich höre Dich nicht, der Verstand ist immer noch zu laut. Verdammt!
Und das Ende vom Lied? Mehrere Flaschen Wein, ein Separee in einer Karaoke Bar und, oh mein Gott, was habe ich herrlich schief die Lieder mit gegrölt! Voller Inbrunst! Ist doch völlig egal wie es klingt, denn es macht Spaß! Und zwar dem Herzen! Und das ist alles was zählt. Schade, dass wir irgendwann alle englischen Lieder durchhatten, ich hätte noch Stunden mit der Truppe singen, lachen und feiern können. Oder kurz gesagt: Das Herz sprechen lassen.
Am Ende des Abends fiel ich vollkommen glücklich und leicht angetrunken in mein Bett. Der Tag hatte alle emotionalen Höhen und Tiefen, die das Leben für einen bereithält. Im Vorfeld hätte ich nie im Leben gedacht, dass diese Reise mich so sehr schüttelt, umarmt, anschreit und mir gut zuredet. Vietnam macht etwas mit einem, ich bin gespannt was es noch für mich bereithält. Zweite Halbzeit, ich bin bereit für Dich!
Text: Ricarda Masuhr (http://pechundschwefel.eu)
Bilder: Tourmitglieder
Liebe Ricarda,
das hast Du ganz wundervoll geschrieben.
Ich kann richtig mit Dir mitfühlen.
Es tut ja manchmal wirklich weh sich selbst zu finden und los zu lassen.
Das ist wirklich nicht leicht.
Aber schön, dass Du auch jede Menge Spass dabei hast.
Das Leben ist wild und gefährlich, und manchmal auch langweilig.
Eine große Baustelle halt.
Ich wünsch Dir, dass Deine Reise so weitergeht, und Du viele gute Erfahrungen
mit nachhause bringst und in Dein Leben einbauen kannst.
Aber so wie ich Dich auf die Ferne einschätze, machst Du das sowieso!
Liebe Grüße an Vietnam (wo ich noch nie war…),
Sonja
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